AM LICHTSCHALTER DER NATION
In der Zeltstadt auf dem Syntagmaplatz vor dem Parlamentsgebäude in Athen herrscht Openair Stimmung. Hängematten sind zwischen die Bäume gespannt. Eine Radiostation sendet live vom Zentrum des Widerstandes. Eine ältere Frau mit anstössiger Kappe wäscht ihre Kleider im Brunnen. Ein junger Mann mit langen Haaren und rot lackierten Zehennägeln schwebt barfuss über den Platz. Hängengebliebene 68er stolpern hinterher. Zwei seriös gekleidete Herren diskutieren angeregt auf einer Parkbank. Überall Plakate und Zeichnungen. Es gibt kostenlos Kaffee für alle, die sich mit den Demonstranten unterhalten wollen. Hinter den Zelten auf dem Platz steht keine Partei oder Organisation. Die Gemeinschaft soll ein Vorbild sein für eine basisdemokratische Gesellschaft. Regelmässig werden Versammlungen einberufen, um gemeinsam Entscheidungen zu treffen. Es wird über Positionen, Inhalte von Plakaten, über die Einberufung eines Ordnungsteams oder über Essensstände abgestimmt. Alle haben sie eine Stimme und ein gemeinsames Ziel. Die Regierung, welche sie Diebe nennen, soll abdanken. Und dann? „Neuwahlen“, erklärt mir ein Alter mit kratziger Stimme und ohne Zähne, „wir sind schliesslich ein demokratisches Land.“
Wir sitzen mit Mikaelis in einem Innenhof. Die Bäume sind hoch, der Schatten angenehm kühl. Die im Hof angelegten Terrassen sind mit kleinen Hockern und Tischen zugestellt. „40 Prozent Jugendarbeitslosigkeit, zig Milliarden Schulden bei europäischen Banken, ein Staat der nicht fähig ist Steuern einzutreiben. Ja, der nicht mal über ein Grundbuch verfügt, aus dem er seine Besitztümer ableiten kann. 750‘000 Staatsangestellte von denen keiner entlassen werden kann, weil ihnen per Verfassung eine Anstellung auf Lebzeiten garantiert ist. Wir sitzen richtig tief drin und brauchen definitiv mehr Veränderung als ein weiteres Sparpaket oder Neuwahlen bei denen nichts und niemand neu ist.“ Mikaelis Augen flackern angriffig. Der Bauingenieur arbeitet für den WWF, er fühlt sich ungerecht behandelt: „Die Europäer beschimpfen uns als faule und dumme Menschen. Unter ihren prüfenden Augen hat sich aber dieser korrupte und aufgeblähte Staatsapparat installiert.“ Er nimmt einen Schluck und wischt sich mit dem Handrücken den Weissbierschaum von der Oberlippe. Mikaelis Frust ist gross. Denn es gibt keine schnellen, einfachen Lösungen für die Situation Griechenlands. Ein teilweiser Schuldenerlass würde nur die akutesten Probleme lösen, zusätzlich sei ein fundamentaler Wandel nötig. Mikaelis sieht viel Positives in den Demonstrationen um den Syntagma Platz: „Endlich setzen sich Nationalisten und Linke gemeinsam an einen Tisch setzen und überlegten wie ein politisches System mit mehr Mitspracherecht für alle aussehen könnte.“ Eine Erneuerung des politischen Systems ist bisher nichts mehr als ein frommer Wunsch. Der IWF und die EU kennen andere Instrumente um Griechenland zu sanieren. Im Cafe fällt zum vierten Mal der Strom aus. Die Leute von den Elektrizitätswerken streiken, sie wollen nicht privatisiert werden. Unser Essen bleibt endgültig im Lift stecken.
MIT DEM GRIECHISCHEN CHROMOSOM GEGEN DIE GLOBALE OLIGARCHIE
Die Filter sind bereits auf Vorrat zurechtgeschnitten, Panagiotis befeuchtet das kleine Stück Karton um es leichter biegen zu können. Gekonnt schwingt er ein S in die Mitte der Kartonrolle. Den Filter legt er zusammen mit dem Papierchen, ein schmales mittlerer Dicke neben seine Mischschale, den wuchtigen Holztopf. „Eine Handvoll Männer kontrollieren das globale Finanzkapital. Diese Oligarchen lenken die Märkte und beuten die Arbeiter aus.“ Pana röstet die Zigarette über der Flamme, um den Tabak feiner zerreiben zu können. Es riecht nach Popcorn. „Wenn sich jemand gegen das System auflehnt, wird er bestraft. Das müssen die Griechen jetzt erfahren. Doch unsere Geschichte ist geprägt von Krisen und Konflikten, wir sind uns daran gewöhnt. Wir lassen uns nicht unterdrücken wie ihr Schweizer. Wir werden kämpfen. Nicht umsonst haben wir ein Chromosom mehr als alle anderen“. Dreiviertel Zigarette und die Hälfte des Haschklumpens mahlt Pana in den Holztopf. Behutsam mischt er Tabak mit Hasch und füllt alles ins Papier. Es knistert beim Drehen. Kurz klopfen, den Halt des Filters nachprüfen. Oben zudrehen und das überschüssige Papier abtrennen. „Viele meiner Freunde wollen beginnen Tiere zu halten und Gemüse anpflanzen um sich selber zu versorgen. Sie wollen autonom und frei von kapitalistischen Zwängen sein“. Mit dem ersten Zug verändern sich Panas Gesichtszüge, sie werden weich, das Genervte verblasst. Er baut sein Sofa zum Bett um. Im Liegen zeigt er uns den „Nilpferd“ Fisch in Full HD und den Riot Dog auf YouTube. Während die Klimaanlage uns das letzte bisschen Stadthitze aus dem Körper stiehlt, erzählt Pana von der Arbeit in der Werft, wo er das Lager bewirtschaftet. Es ist Krise auch beim Schiffbau. Pana hat seit gut zwei Monaten keinen Lohn mehr erhalten. Trotzdem fährt er jeden Morgen um fünf mit seinem grossen Motorrad die 50 Kilometer ans Meer. Um halb vier kehrt zurück in sein klimatisiertes Reich zu Joint und Computer. Seine Mutter hat dann bereits gekocht und geputzt. Sie wohnt in der Wohnung über ihm.
Panagiotis ist dreissig Jahre alt. Er besitzt neben dem Motorrad ein Auto, eine eigene Wohnung in Athen und ein Ferienhaus am Meer.
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