Kurz mal über eine unscheinbare Grenze und man ist in einer neuen Welt. Eigentlich auch noch Jugoslawien hab ich mir gedacht, aber Bosnien-Herzegowina ist nicht mit Kroatien oder Slowenien zu vergleichen. Auch hügelig, auch grün aber es stehen Minarette auf der Alp und die Wunden des Kriegs sind nicht verheilt, weder an Personen, Gebäuden noch an der Wirtschaft. Noch immer sind grosse Teile Bosniens vermint. In Mostar haben sie ihre Brücke zwar wieder aufgebaut aber auch 15 Jahre nach Kriegsende sind viele Gebäude mit Einschusslöchern übersät, andere sind nur noch Ruinen.
Es war beschämend wie wenig ich vom Krieg wusste. Ich weiss mehr von den Pfahlbauern und ihrer Denkweise, als von einem Krieg im Europa des 21.Jahrunderts, ein paar Autostunden von der Schweiz entfernt. Neben der Hauptfront Serben gegen Bosniaken gab es noch weitere Kämpfe zwischen Kroaten und Serben, Serben und Kroaten gemeinsam gegen Bosniaken, Kroaten gegen Bosnier oder kurz gesagt jeder gegen jeden. Ein bisschen wie Asterix bei den Goten. Was vor dem Krieg durchmischt war ist nun getrennt. Die Volksgruppen der Bosniaken, der bosnischen Kroaten und der bosnischen Serben leben mehr oder weniger segregiert in ihren Landesteilen. Die bosnischen Serben haben gar einen eigenem Staat im Staat: Republika Srpska hat eine eigene Flagge, eine eigene Hauptstadt und eine eigene Schrift. In Bosnien Herzegowina setzt die EU die Demokratie ausser Kraft. Demokratische Aushandlungsprozesse bestehen nur dem Schein nach, denn der eingesetzte EU Repräsentant kann jeden demokratischen Entscheid bei Bedarf umstossen, er hat immer das Vetorecht. Früher nannte man das Vogtei beziehungsweise Kolonie.
Ost trifft West! Sarajevo hat eine grosse Cafekultur zu bieten. Wiener stehen neben osmanischen Cafes, Kopftuch neben Minirock. In Sarajevo hat beides Platz. Muss man in Sarajevo nach dem Weg fragen, sollte man mindestens eine Viertelstunde für die Antwort einberechnen. Es wird nämlich alles versucht um den Touri ans Ziel zu bringen. Einer hat eine Skizze gezeichnet, die immer grösser wurde bis sie auf einer A4 Seite keinen Platz mehr fand. Einmal wurde der Telefonjoker gezogen und Perla hatte kurzerhand irgendeine Cousine am Hörer. Ein Ehepaar hat eine männliche und eine weibliche Variante vorgelegt und diese ausführlich erörtert. Wer schüttelt bei uns Hände wenn ihn jemand nach dem Weg fragt? Andere haben einfach nur Freude ihre Deutschbrocken zu entstauben. Wieder andere vollführen tollkühne Hand- bewegungen, die man auch als asiatische Kampfkunst deuten könnte. Ja wir mussten wirklich viel nach dem Weg fragen!
IM TUNNELMUSEUM
Gebückt durch kniehohes Wasser watend, an der Decke das Starkstromkabel und die Treibstoffpipeline, immer wieder sind Detonationen zu hören. Die Männer sprechen nicht, nur vorwärts, den
verletzten Kameraden auf der Trage. Endlich Tageslicht am Ende des Tunnels. Wenige Stufen führen nach oben. Sie haben es geschafft. Schnitt. Wir sind an der Erdoberfläche, Sarajevo 1993. Die
ältere Frau mit Kopftuch heisst Sida Kolar und empfängt die Soldaten mit einem Lachen und Wasser. Die Männer haben eben die belagerte Stadt durch den geheimen Tunnel verlassen. Das Video
endet.
Benommen von den Kriegsbildern sitzen wir auf den alten Munitionskisten, die als Stühle dienen. An den Wänden hängen Uniformen und Tarnnetze. Wir allein im Keller des Hauses, in welchem der
berühmte Tunnel endete. Der Tunnel, der die Bevölkerung in Sarajevo während der dreijährigen serbischen Belagerung am Leben erhielt. 800 Meter lang, unter der Landebahn des Flughafens hindurch,
einsfünfzig hoch, ein Meter schmal. Lebensmittel, Waffen, Soldaten und Tiere wurden durch den Tunnel geschleust.
Im Erdgeschoss begrüsst Edis Kolar, der Leiter des Museums, eine Gruppe türkischer Frauen. Edis ist der Enkel von Sida, der Frau im Video. Es ist sein privates Kriegsmuseum im Haus der Familie. Wie sein Vater hat er im Krieg gekämpft, jetzt sorgt er dafür, dass niemand den Krieg vergisst.
Im ersten Stock mehr Kriegsmaterial, Helme, Karren, Gewehre. Ein Zimmer mit Briefen und Fotos. Alle waren sie hier: Regierungschefs und Botschafter mit Familie. Orlando Bloom lächelt charmant, Morgan Freeman schaut wie immer. Edis Grossmutter bekommt viel Platz im Gang und in den Zimmern, teils unscharf aber immer eingerahmt hängen ihre Bilder. Wir gehen durch das letzte erhaltene Tunnelstück, es ist eng und endet im Garten. Der Guide erklärt auf der Karte wo die serbischen Panzer stationiert waren, die jungen Türkinnen lauschen gebannt. Dann tritt sie auf. Ihr Gang ist gebückt, das Lachen etwas müde, aber es ist sie zweifellos. Der Guide sagt ein paar Worte, die Türkinnen sind aus dem Häuschen. Jede will ein Foto mit Sida, dem Tunnelengel. Die Situation eskaliert, eine beginnt zu weinen, dann heulen sie alle. Sie streicheln die alte Frau, küssen ihr die Hand. Die eine schenkt ihren Schal, die andere eine Kette. Der einzige Mann der Gruppe gibt 20 Euro. Sida kennt die Prozedur, gewandt bedankt sie sich für die Geschenke. Der Spuk dauert kaum fünf Minuten. Dann führt Edis seine Grossmutter wieder weg.
Kommentar schreiben